© Landeshauptstadt Potsdam / Dieter Chill

Was wäre wenn? Das Leben der hochbegabten Schauspielerin Hertha Thiele (1908–1984)1 lässt sich trefflich mit dieser Frage reflektieren. In ihrem Filmdebüt Mädchen in Uniform (1931) spielte sie eine hochsensible Offizierstochter, die nach dem Tod ihrer Mutter von ihrer Tante in ein von „tyrannische[r] Disziplin“2 durchsetztes Mädcheninternat gesteckt wird, sich in ihre junge Lehrerin verliebt und daran beinahe zugrunde geht. Der Film – von einer lesbischen Autorin geschrieben (Christa Winsloe), von einer Frau inszeniert (Leontine Sagan) und ausschließlich mit Frauen besetzt – verwebt auf subtile Weise die Rebellion der Schülerinnen gegen die repressiven Erziehungsmethoden mit der Emanzipation gleichgeschlechtlicher Liebe.3 Dabei ist die homoerotische Anziehungskraft aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Filmschaffenden4 derart ambigue angelegt, dass die zeitgenössische Kritik sie gänzlich ignorierte,5 ein Filmlexikon sie Mitte der 1970er Jahre als Missverständnis abtat,6 während ein lesbisches Magazin den in Potsdam gedrehten Film zur gleichen Zeit als die erste lesbische Produktion bekannt machte7 und nachfolgend zu einem Kultfilm avancieren ließ.8 Hertha Thiele indes, mit ihrem „knabenhafte[n] Körper, gepaart mit einem madonnenhaften Gesicht“,9 wurde in ihrer ganzen Filmarbeit von außen und ohne eigenes Interesse zu einem Liebesobjekt für Frauen stilisiert.10 Nicht nur konnte sie dadurch ihr Talent nicht in vollem Maße ausschöpfen11 – nach nur elf Rollen fand ihre vielsprechende Karriere 1933 ihr Ende, als sie sich weigerte, in einem NS-Propagandafilm mitzuspielen, weshalb die Nazis sie schließlich mit einem Berufsverbot belegten.12 Thiele lehnte die zuvor erfolgten Anbiedereien von Joseph Goebbels entschieden ab, bezeichnete die Machtergreifung als „ein Irrtum des deutschen Volkes“, trennte sich von ihrem Ehemann, weil dieser mit den Nazis kooperierte, und ging ins Exil.13 Beruflich sollte sie sich davon nicht mehr erholen.14 Was wäre wenn – statt der NS-Zeit die Emanzipation geglückt wäre?15

Starporträt der Schauspielerin Hertha Thiele. © Deutsche Kinemathek

1 Vgl. Friedemann Beyer: Die Gesichter der UFA. Starportraits einer Epoche, München 1992, 136.

2 Liz-Anne Bawden, Wolfram Tichy (Hg.): rororo Filmlexikon. Filmbeispiele, Genres, Länder, Institutionen, Technik, Theorie (Bd. 2, Filme K–S), Reinbek bei Hamburg 1978, 394.

3 Vgl. Anton Kaes: Film in der Weimarer Republik. Motor der Moderne, in: Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart 1993, 38–100, hier 94.

4 Vgl. Heide Schlüpmann, Karola Gramann: Momente erotischer Utopie – ästhetisierte Verdrängung, in: Frauen und Film, Nr. 28, 1981, 28–47, hier 30.

5 Vgl. ebd., 32.

6 Siehe Bawden u. a. (Hg.): rororo Filmlexikon (Bd. 2), 394.

7 Siehe Janet Meyers: Dyke Goes to the Movies, in: DYKE, Nr. 2, 1976, 37–38.

8 Vgl. Schlüpmann u. a.: Momente erotischer Utopie, 28 und 32.

9 Adolf Heinzlmeier, Berndt Schulz: Lexikon der deutschen Film- und TV-Stars, Berlin 2000, 347.

10 Vgl. Schlüpmann u. a.: Momente erotischer Utopie, 30.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. Kerstin Kollecker: Thiele, Hertha, in: leipzig.de, 2017, https://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/frauen/1000-jahre-leipzig-100-frauenportraets/detailseite-frauenportraets/projekt/thiele-hertha/.

13 Siehe dazu Karola Gramann, Heide Schlüpmann: Gegenbewegung. Hertha Thieles Emigration, in: Frauen und Film, Nr. 26, 1980, 17–21;
das Zitat ist auf Seite 18.

14 Vgl. Heinzlmeier u. a.: Lexikon der deutschen Film- und TV-Stars, 347.

15 Vgl. Schlüpmann u. a.: Momente erotischer Utopie, 31.

Zum Seitenanfang

Diese Website verwendet Cookies.
Bitte lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für Details.

OK