Kirchsteigfeld


Mit dem Kirchsteigfeld, einem der ersten großen Neubauprojekte der neuen Bundesländer, entstand in den 1990er Jahren ein komplett neuer Stadtteil im Potsdamer Südosten auf einer zuvor landwirtschaftlich genutzten Fläche. Dass das Kirchsteigfeld im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Wende seinen Anfang nahm, sichert ihm bis heute eine herausgehobene Bedeutung.1 Der Stadtteil dokumentiert wie „die BRD die Bühne der Potsdamer Stadtentwicklung“2 betrat.







Es waren die Architekten Rob Krier und Christoph Kohl, die das Gesamtkonzept entwickelten, während einzelne Gebäude und Abschnitte von weiteren Architekt*innen realisiert wurden. Das Kirchsteigfeld kann der städtebaulichen Bewegung des New Urbanism zugerechnet werden. Hierbei adaptieren komplett neu angelegte Stadtteile alte sukzessiv gewachsene urbane Strukturen mit ihren unterschiedlichen Häusern, verwinkelten Straßen und Gassen, größeren und kleineren Plätzen, versteckten Gärten, Parks und Kanälen und kombinieren sie mit modernen Konzepten z. B. der Verkehrsanbindung.3





Der Stadtteil Kirchsteigfeld im Jahr 1998. Er gilt als eines der ersten großen Neubauprojekte nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern. 

© Landeshauptstadt Potsdam / Barbara Plate

Doch das Kirchsteigfeld sichert sich nicht nur durch seine Entstehung unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine besondere Position. Auch seine Straßenbenennung fällt auf, denn anders als im übrigen Potsdam sind hier sehr viele Straßen nach herausragenden Frauen aus Literatur, Wissenschaft, Politik und Musik benannt: Im Oktober 2019 berichteten Potsdamer Neueste Nachrichten, dass von den insgesamt 1102 Straßen und Plätzen in Potsdam 334 nach Männern und lediglich 51 nach Frauen benannt sind.4 Von diesen sind rund 30 Prozent allein im Kirchsteigfeld zu finden.


An der Dorothea-Schneider-Straße, benannt nach einer Frau, die gemeinsam mit ihrer Tochter untergetauchte Jüd*innen vor den Nationalsozialisten versteckte,5 befindet sich der Heiner-Carow-Platz. Er ist eine weitere Besonderheit, denn die übrigen filmischen Straßennamen treten in Potsdam gebündelt in Drewitz, Babelsberg und Groß Glienicke auf. Der Heiner-Carow-Platz steht mit seinem expliziten filmischen Bezug im Kirchsteigfeld alleine da. Diese singuläre Stellung verdankt sich einer Umbenennung: Nach dem DEFA-Regisseur Heiner Carow war bereits eine Straße auf dem Studiogelände in Babelsberg benannt. 2009 beschloss jedoch das Studio, eine Straße dem Regisseur Quentin Tarantino zu widmen, dessen Produktion Inglourious Basterds (2009) einen wichtigen Beitrag zur Attraktivität des Studios für internationale Großproduktionen leistete. Eine bestehende Benennung musste dafür weichen, es traf die Heiner-Carow-Straße.





2009 wurde die Heiner-Carow-Straße auf dem Studiogelände in Babelsberg in Quentin-Tarantino-Straße umbenannt. 

© Studio Babelsberg AG / Joachim Gern

Die Entscheidung des Studios stieß nicht nur auf Verständnis. Über das Rechtsamt der Stadt Potsdam wurde die Umbenennung sogar rechtlich geprüft, denn sie war ohne eine Abstimmung mit der Stadt erfolgt. Doch bei Straßen auf dem Studiogelände handelt es sich um Privatstraßen, bei deren Umbenennung die Stadt nicht beteiligt werden muss.6 Auf Antrag der Linksfraktion wurde der damalige Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) beauftragt, diesem „unsensiblen Vorgehen“7 entgegenzuwirken. Für Heiner Carow sollte schnellstmöglich eine städtische Straße als Ersatz gefunden werden.8 Die Suche nach einem alternativen Standort verlief jedoch ohne Erfolg, weshalb schließlich der bis dahin namenlose Stadtplatz im Kirchsteigfeld nach dem DEFA-Regisseur benannt wurde.9


Das Kirchsteigfeld grenzt unmittelbar an den Stadtteil Drewitz,
eines der letzten Neubaugebiete der DDR, in dem wie in Babelsberg Straßen nach Filmschaffenden benannt sind. Entsprechend hieß es in der Begründung für die Standortwahl im Kirchsteigfeld:


„Da […] in dem nördlich benachbarten Stadtteil Neu-Drewitz vornehmlich Straßennamen nach Filmschauspielern und Regisseuren der deutschen Filmgeschichte benannt wurden, würde eine Benennung des namenlosen Stadtplatzes im Kirchsteigfeld nach Heiner Carow die Zusammengehörigkeit beider Stadtteile unterstreichen.“10


Der Heiner-Carow-Platz im Kirchsteigfeld. 

© Landeshauptstadt Potsdam / Dieter Chill

Neben dieser kann noch eine weitere Verbindung zwischen dem Heiner-Carow-Platz und Drewitz gesehen werden: Die Planung und Umsetzung des Stadtteils Drewitz erfolgte im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR. Dieses Programm wurde in der DDR medial aufgearbeitet, mal überschwänglich positiv wie z. B. in dem dokumentarischen Fernseh-Dreiteiler Die dritte Haut (1989, Regie: Walter Heynowski, Gerhard Scheumann),11 mal kritisch wie in dem Film Insel der Schwäne (1983, Regie: Herrmann Zschoche), aber auch mit wehmütigem Humor wie in Heiner Carows Die Legende von Paul und Paula (1973). Als roter Faden werden in diesem Film immer wieder Ost-Berliner Altbauten gesprengt, um für den industriellen Wohnungsbau Platz zu schaffen. Die Heldin und der Held der Geschichte leben in der Ost-Berliner Singerstraße: Paula in einem Altbau auf der einen Straßenseite, Paul in einem Neubau auf der anderen. Genau 39 Jahre nach der Uraufführung von Die Legende von Paul und Paula fand am 29.3.2012 die offizielle Benennung des Heiner-Carow-Platzes statt.12 Damit erfolgte ausgerechnet in einem der ersten Neubaugebiete der neuen Bundesländer die Würdigung eines Regisseurs, der es vermocht hatte, so etwas Trockenes wie ein Neubauprogramm aufzugreifen, um es in eine poetische Metapher für verschiedene Lebenskonzepte in einem sozialistischen Staat umzuwandeln.

1 Vgl. Ludger Basten: Postmoderner Urbanismus. Gestaltung in der städtischen Peripherie, Münster 2005, 91–92.

2 Ebd., 92.

3 Vgl. Kathleen James-Chakraborty: Kirchsteigfeld –A European Perspective on the Construction of Community, in: Places, Jg. 14, Nr. 1, 2001, 56–63, hier 56.

4 Siehe Henri Kramer: Nur wenige Straßen nach Frauen benannt. Ungleichgewicht in Potsdam, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 26.10.2019, https://www.pnn.de/potsdam/ungleichgewicht-in-potsdam-nur-wenige-strassen-nach-frauen-benannt/25157126.html.

5 Vgl. Beate Kosmala: Zuflucht in Potsdam bei Christen der Bekennenden Kirche, in: Wolfgang Benz (Hg.): Überleben im Dritten Reich: Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, 113–130, hier 113–117.

6 Vgl. Stadtarchiv Potsdam; Bestand: Stadtverordnetenversammlung ab 1990; Teilbestand: 12 – Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung; Provenienz: Landeshauptstadt Potsdam, Büro der Stadtverordnetenversammlung; Titel: Drucksachen 10/SVV/0081; Signatur 12/0751; Vorlage Nr. 10/SVV/0094. Beschluss der 16. Öffentlichen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam am 30.3.2010.

7 Stadtarchiv Potsdam; Bestand: Stadtverordnetenversammlung ab 1990; Teilbestand: 12 – Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung; Provenienz: Landeshauptstadt Potsdam, Büro der Stadtverordnetenversammlung; Titel: Niederschrift der 12. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 7. Oktober 2009 und Niederschrift zu der Fortsetzungssitzung am 12. Oktober; Signatur: 12/0796; Drucksache Nr. 09/SVV/0678; Antrag, Betreff: Heiner-Carow-Straße, Einreicher: Fraktion DIE LINKE, Erstellungsdatum 30.7.2009.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Drucksachen 10/SVV/008; Signatur 12/0751; Vorlage Nr. 10/SVV/0094.

10 Stadtarchiv Potsdam; Bestand: Stadtverordnetenversammlung ab 1990; Teilbestand: 12 – Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung; Provenienz: Landeshauptstadt Potsdam, Büro der Stadtverordnetenversammlung; Titel: Drucksachen 10/SVV/0081 – Anfragen, Anträge, Beschlüsse, Beschlussvorlagen, Mitteilungsvorlagen und Anlage; Signatur 12/0751; Vorlage Nr. 10/SVV/0094. Beschluss der 16. Öffentlichen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam am 30.3.2010.

11 Rüdiger Steinmetz: Die Film- und Fernseh-Dokumentaristen Walter Heynowski und Gerhard Scheumann, in: Rüdiger Steinmetz, Tilo Prase (Hg.): Dokumentarfilm zwischen Beweis und Pamphlet: Heynowski & Scheumann und Gruppe Katins, Leipzig 2002, 13–158, hier 138–139.

12 Vgl. anonym: Feierliche Namensgebung für
den Heiner-Carow-Platz [Pressemitteilung der Landeshauptstadt Potsdam], potsdam.de, 29.3.2012, https://www.potsdam.de/content/196-feierliche-namensgebung-fuer-den-heiner-carow-platz.


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