Straßenlandschaft als Palimpsest


Straßenlandschaften mit ihren Benennungen wirken wie überzeitliche, relativ stabile Netzwerke. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich aber um nie abgeschlossene, dynamische Gebilde. Die Straßenlandschaft kann als ein Palimpsest verstanden werden, als ein Schriftstück, das zu unterschiedlichen Zeiten und in sich wandelnden Kontexten von verschiedenen Autor*innen weitergeschrieben und durch eine sich ständig erneuernde Leserschaft interpretiert wird. Die Erweiterung des Textes ist dabei genauso üblich wie das Ausradieren und Überschreiben sowie die Rückbesinnung. Ältere Schichten des Textes werden nie vollständig ausgelöscht. Wird die Straßenlandschaft als ein Palimpsest verstanden, erscheint die Benennung oder Umbenennung von Straßen als ein Akt der Produktion der Stadt als Text.1


Wer hat eigentlich die Macht, neue oder veränderte Narrative zu produzieren und in die Stadt einzuschreiben? Welche Geschichte(n) „erzählen“ die Straßennamen? Und wie reagiert die Stadtgesellschaft darauf, wenn sich Lesarten einer Stadt als Text verändern?






1 Vgl. Reuben Rose-Redwood, Derek Alderman, Maoz Azaryahu: The urban streetscape as political cosmos, in: dies. (Hg.): The Political Life of Urban Streetscapes. Naming, Politics, and Place, London, New York 2018, 1–24, hier 7–8.

An der Stadt als Text wird permanent geschrieben. 

Auch pragmatische Gründe können zu Änderungen am Text führen. 

© Dieter Chill

Filmakademiestraße


Im Stadtteil Babelsberg finden wir heute die August-Bebel-Straße.
Ab ca. 1927 trug die Straße den Namen des Architekten Wilhelm Böckmann (1832–1902) und wurde 1938 in Filmakademiestraße umbenannt – ein Bezug zu der soeben gegründeten Deutschen Filmakademie, die die Ausbildung des Filmnachwuchses im Sinne
der Ideologie des Nationalsozialismus unter staatliche Kontrolle stellen sollte. In den ersten beiden Jahren wurden die Lernenden
von Filmpraktiker*innen unterrichtet, zu denen auch der Schauspieler Heinrich George gehörte. Die Lehranstalt stellte jedoch für Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945) kein Erfolgsmodell dar, und schließlich trug auch die Einberufung von Studierenden und Lehrkräften zum Kriegsdienst dazu bei, dass die Akademie etwa 1940 geschlossen wurde.1


Die Deutsche Filmakademie sollte nach den Plänen der nationalsozialistischen Kulturpolitiker Teil des Ausbaus des Babelsberger Ufa-Studiogeländes zu einer „Filmstadt“ werden, die Hollywood den Rang ablaufen sollte. Doch Architekt Emil Fahrenkamp (1885–1966), der 1938 den Wettbewerb „Filmstadt Babelsberg“ gewonnen hatte, konnte seine Ideen mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr umsetzen.


Seit 1945 trägt die Straße den Namen des Mitbegründers
der deutschen Sozialdemokratie August Bebel (1840–1913).


1 Vgl. Clemens Zimmermann: Filmwissenschaft im Nationalsozialismus – Anspruch und Scheitern, in: Armin Kohnle, Frank Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte, Stuttgart 2001, 203–217,
hier 214 und anonym: Die Ufa-Lehrschau und
die Deutsche Filmakademie, in: filmportal.de,
https://www.filmportal.de/thema/die-ufa-lehrschau-und-die-deutsche-filmakademie.

Die heutige August-Bebel-Straße trug von 1938 bis 1945 den Namen Filmakademiestraße 

und nahm damit Bezug zur im gleichen Jahr gegründeten Deutschen Filmakademie

© Landeshauptstadt Potsdam / Dieter Chill

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