Straßenlandschaft als performativer Raum


Was auf Straßenschildern steht, ist das eine, was die Menschen aus einem Straßenschild und einer Straßenbenennung in ihrem Alltag machen, etwas anderes. Die Perspektive des performativen Raums verweist darauf, dass – nur weil eine Straße über ein Schild verfügt, auf dem eine Benennung steht –, die Menschen das damit offerierte Angebot nicht auch annehmen müssen. Es gibt gewissermaßen eine zweite Bedeutungsebene der Straßenschilder und Straßennamen, nämlich diejenige des tatsächlichen Umgangs mit ihnen und des alltäglichen Sprachgebrauchs. Diese Bedeutungsebene wird von offiziellen Straßennamen-Verzeichnissen nicht erfasst, ist aber ebenso wichtig wie die Frage danach, wer oder was, von wem und aus welchen Gründen auf einem Straßenschild gewürdigt wird. Die Idee vom performativen Raum führt uns weg von der (Nicht‑)Repräsentation hin zur Interaktion.


Wenn die Stangen von Straßenschildern mit Werbestickern, Wohnungsgesuchen und anderen Anzeigen beklebt werden, um z. B. über vermisste Katzen oder verlorene Schlüssel zu kommunizieren, oder gar mit Strickarbeiten, kleinen Figürchen oder Minigrafiken verziert werden, dann finden Umfunktionalisierungen statt. Weitere Anverwandlungen vollziehen sich in der Sphäre des Immateriellen, wenn die amtlichen Straßennamen, vorsätzlich oder unbeabsichtigt, nicht in den Sprachgebrauch der Menschen übernommen werden oder wenn Straßen nur mit Abkürzungen, Phantasienamen oder wortspielerischen Verballhornungen benannt werden – ein Moment der Verfremdung innerhalb der täglichen Kommunikation, welche die Bedeutungskontexte der Straßennamen umwandelt oder neu setzt.1


Bei der Transformation von Straßenschildern und Straßennamen handelt es sich in manchen Fällen um kreative, gelegentlich sogar künstlerische Interventionen, überwiegend jedoch um unbewusste und unpolitische Akte der Aneignung des öffentlichen Raums.2 An der Straßenlandschaft wird also nicht nur mittels politisch-administrativer Institutionen oder Auseinandersetzungen in der kulturellen Arena weitergeschrieben, sondern ebenso durch das tägliche Interagieren mit diesem öffentlichen, uns umgebenden Text.


Welche Rolle spielt die private Kommunikation innerhalb von Familien, mit Freund*innen oder mit Arbeitskolleg*innen bei der abweichenden Benennung von Straßen? Welche Rolle spielen adaptierte Lieder oder Versatzstücke aus der Literatur bei der inoffiziellen Straßenbenennung?


Gibt es Beispiele dafür, dass ein alltäglicher Namensgebrauch administrativ aufgegriffen wurde und in die offizielle Benennungspraxis eingegangen ist? Gibt es Orte, in die sich Umformungen von Straßennamen eingeschrieben haben, also physische Realität geworden sind?

1 Vgl. Garth Andrew Myers: Naming and Placing the Other: Power and the Urban Landscape in Zanzibar, in: Journal of Economic and Social Geography, Bd. 87, Nr. 3, 1996, 237–246.

2 Vgl. Duncan Light, Craig Young: Habit, Memory, and the Persistence of Socialist-Era Street Names in Postsocialist Bucharest, Romania, in: Annals of the Association of American Geographers, Bd. 104, Nr. 3, 2014, 668–685.

Ein „Tag“ auf einem Straßennamenschild in Potsdam. „Taggen“ dient in der Graffiti-Kultur dazu 

ein Graffiti mit einer Unterschrift zu versehen, aber auch um eine territoriale Markierung vorzunehmen. 

Der Begriff „Tag“ kommt aus dem Englischen und kann unter anderem übersetzt werden mit Kennzeichnung oder Etikett. 

© Dieter Chill 

Brandenburger Straße


Die Brandenburger Straße ist eine der zentralen Einkaufsstraßen in der Innenstadt von Potsdam. Im 18. Jahrhundert so benannt und 1809 amtlich registriert, erfolgte 1955 anlässlich der Woche der deutsch-tschechoslowakischen Freundschaft die Umbenennung in Klement-Gottwald-Straße.1 Klement Gottwald (1896–1953) war von 1948 bis zu seinem Tod kommunistischer Staatspräsident der Tschechoslowakei und als Stalinist für politische Verfolgung und Morde verantwortlich. Nach der Wiedervereinigung erfolgte 1990
die Rückbenennung in Brandenburger Straße.



Die Klement-Gottwald-Straße in den 1970er Jahren. Heute heißt die Fußgängerzone 

wieder Brandenburger Straße. Sie wird 2021 zu einem Boulevard des Films

© Dieter Chill

Werden die Potsdamer*innen danach befragt, wie sie die Straße nach ihrer (ersten) Umbenennung bezeichnet haben, ergibt sich kein einheitliches Bild. Die einen nahmen den neuen Namen an, andere verkürzten ihn auf „Klemi“2, wieder andere blieben aus Gewohnheit oder Protest bei „Brandenburger Straße“ und ignorierten so die Umbenennung: „Wusste ja jeder, welche Straße gemeint war.“3 Und es bürgerten sich weitere Bezeichnungen für die – zu DDR-Zeiten in eine Fußgängerzone umgestaltete – Einkaufsstraße ein: „Broadway“ und „(Bummel)Boulevard“. Diese umgangssprachlichen Namen nährten die Inspiration, die Verbundenheit Potsdams mit seiner Filmgeschichte durch einen Boulevard des Films zum Ausdruck zu bringen. 2021 beginnen auf der Brandenburger Straße Sanierungsarbeiten, in deren Zuge Granitplatten mit Informationen zu herausragenden Filmproduktionen, die in Potsdam entstanden sind, in den Boden eingelassen werden.

1 Vgl. Klaus Arlt: Die Straßennamen der Stadt Potsdam. Geschichte und Bedeutung, Potsdam 2010, 35 und anonym: Das zweite Ende von Klement Gottwald, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 5.1.2010, https://www.pnn.de/potsdam/das-zweite-ende-von-klement-gottwald/22186240.html.

2 Diese und die folgenden Bezeichnungen stammen aus Gesprächen mit (ehemaligen) Potsdamer*innen.

3 Aus einem Gespräch mit einer ehemaligen Potsdamerin.

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