Straßenlandschaft als kulturelle Arena


Die (gedächtnis-)politische Dynamik bei der Straßenbenennung hängt damit zusammen, dass diese seit dem 17. Jahrhundert sukzessive in immer mehr Ländern zu einem durch Gesetze und Satzungen geregelten Verwaltungsakt wurde (siehe Entstehung von Straßennamen). Auf diese Weise stehen die Straßennamen in Beziehung zu den sich permanent wandelnden (kommunal-)politischen Rahmenbedingungen.


In den Prozess der Straßenbenennung fließen maßgeblich die aktuellen Sichtweisen auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der jeweils regierenden, demokratisch legitimierten politischen Parteien ein. Ein vergleichbarer Ansatz – nur mit umgekehrtem, nicht demokratischem Vorzeichen – lässt sich auch in diktatorisch regierten Staaten beobachten: Deren politische Doktrinen zielen oft vor allem auf den eigenen Machterhalt ab und beinhalten eine entsprechende Huldigung der jeweiligen Herrscher*innen im öffentlichen Raum. Sowohl in demokratisch verfassten Staaten als auch nach Umstürzen oder Revolutionen können Umbenennungen dazu dienen, fragwürdig gewordene Personenehrungen zu korrigieren und veränderte gesellschaftliche Werte zu etablieren, z. B. um Marginalisierung, Diskriminierung und Rassismus entgegenzuwirken. Umgekehrt können Straßen(um)benennungen dazu genutzt werden, Spuren der Vergangenheit ideologisch motiviert zu tilgen oder umzudeuten. Die Umbenennungswellen im 20. Jahrhundert in Deutschland sind Beispiele dafür: ob im Kaiserreich, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialismus, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der BRD und der DDR1 oder schließlich nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern.2 In der Gegenwart werden gleichermaßen vielschichtige und komplexe Auseinandersetzungen um Straßennamen geführt, etwa in Bezug auf das kolonialistische Erbe und auch im Kontext der aktuellen „Black Lives Matter“-Bewegung.


Weil die Straßenbenennung eine potenziell politische Technologie darstellt, die eine unmittelbare Auswirkung auf den Alltag der Menschen hat, ist die Straßenlandschaft kein neutrales Feld, vielmehr kann sie als eine aufgeladene kulturelle Arena gesehen werden:3 

Hier prallen unterschiedliche Weltsichten, Konfessionen und Ideologien aufeinander, konservative und progressive Strömungen kollidieren, etablierte Strukturen und die Avantgarde konkurrieren. Aber die kulturelle Arena stellt auch einen Raum zur Verfügung, in dem die tatsächliche Vielfalt des kulturellen Erbes anschaulich und erlebbar werden kann, die städtischen Identitäten gleichberechtigt repräsentiert sein und Diskriminierung und Rassismus sukzessive an Boden verlieren könnten.


Wie soll mit (nicht nur) aus heutiger Perspektive problematisch gewordenem Straßennamen-Erbe umgegangen werden? Im historischen Kontext betrachten und verwerfen oder neu bewerten und kritisch bewahren, weil auch das Überkommene und die Ambivalenz historischer Biografien Teil einer städtischen Identität sind und in Erinnerung bleiben sollten?


Welche objektiven Gründe, wie z. B. Namensdoppelungen durch Eingemeindung, sind mit dem Akt der (Um-)Benennung von Straßen verbunden? Inwiefern spielen bei Ehrungen wirtschaftliche Interessen eine Rolle? 


Ist die Praxis der (Um-)Benennung von Straßen so gestaltet, dass das demokratische Potenzial der kulturellen Arena ausgeschöpft wird? Wäre eine simple Nummerierung von Straßen, eine etwaige Benennung ausschließlich nach heimischer Flora und Fauna oder nach geografischen Gegebenheiten eine Möglichkeit, jedwedes Konfliktpotenzial aus dem Benennungsprozedere zu verbannen? Im Übrigen: Sind durchnummerierte Straßen tatsächlich neutral?






1 Zu Umbenennungen in Potsdam nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Klaus Arlt: Die Straßennamen der Stadt Potsdam. Geschichte und Bedeutung, Potsdam 2010, 11–12.

2 Vgl. Ingrid Kühn: Umkodierung von öffentlicher Erinnerungskultur am Beispiel von Straßennamen in den neuen Bundesländern, in: Jürgen Eichhoff, Wilfried Seibicke, Michael Wolffsohn (Hg.): Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung, Mannheim 2001, 303–317.

3 Vgl. Reuben Rose-Redwood, Derek Alderman, Maoz Azaryahu: The urban streetscape as political cosmos, in: dies. (Hg.): The Political Life of Urban Streetscapes. Naming, Politics, and Place, London, New York 2018, 1–24, hier 1, 3 und 11–13.

Auf der Fläche der ehemaligen Fachhochschule in der Potsdamer Mitte galt es Ende 2019, drei historische Straßenverläufe zu benennen. Es begann eine intensive Debatte: Rückbenennung nach Straßennamen aus dem 17. und 18. Jahrhundert oder Neubenennung mit den Namen von drei herausragenden Frauen aus der Potsdamer Geschichte? Die Entscheidung ergab eine Benennung nach Anna Flügge, Maria von Pawelsz-Wolf und Anna Zielenziger.

© Dieter Chill  

Heinrich-George-Straße


In den späten 1990er Jahren wurde die heutige Medienstadt in Babelsberg modernisiert. Durch einen privaten Investor entstanden auf dem Gelände unter anderem drei neue Straßen, die an die Stadt Potsdam übergeben wurden, sodass sie zu öffentlichen Straßen gewidmet werden konnten. In derartigen Fällen ist es üblich, dass
der Investor eine Empfehlung zur Benennung abgeben kann. Vorgeschlagen wurden eine Marlene-Dietrich-Allee, eine
Emil-Jannings-Straße und eine Heinrich-George-Straße. Ein entsprechender Antrag wurde 1997 in den zuständigen Ausschüssen verhandelt und im Januar 1998 der Stadtverordnetenversammlung zur Bewilligung vorgelegt. Im Stadtarchiv sind die Unterlagen dazu einsehbar.1


Auffallend ist, dass in den Kurzbiografien der Schauspieler*innen,
die den Mitgliedern des Hauptausschusses und den Stadtverordneten vorgelegen haben, auf die antifaschistische Haltung von Marlene Dietrich hingewiesen wird. Nämlich, dass sie während des Zweiten Weltkriegs antifaschistische Organisationen unterstützte und in der US-amerikanischen „Truppenbetreuung tätig“ war.


Zu Emil Jannings ist dagegen nur zu erfahren, dass er „sowohl wuchtige als auch subtile Helden und Charaktere darstellte“, aufgrund seiner Erfolge in Deutschland eine Zeit lang in Hollywood beschäftigt war und einen Oskar gewann. Es wird informiert, dass er nach Deutschland zurückkehrte, an der Seite von Marlene Dietrich in
Der blaue Engel (1930, Regie: Josef von Sternberg) spielte und 1950 verstorben ist. Auf seine einflussreiche Filmarbeit zwischen 1930 und 1945 und das durch die Alliierten verhängte lebenslange Berufsverbot wird nicht eingegangen. Nur aus der aufgeführten Filmografie ist indirekt ablesbar, dass Jannings in der NS-Filmindustrie tätig blieb.


Zu Heinrich George wird mitgeteilt, dass er Intendant des Schillertheaters in Berlin war und dort „Helden- und Charakterrollen“ spielte. In der Filmauswahl werden Berlin Alexanderplatz (1931, Regie: Piel Jutzi), Der Postmeister (1940, Regie: Gustav Ucicky),
Die Hochzeit2 und Schicksal (1942, Regie: Géza von Bolváry) aufgeführt. Abschließend heißt es: „Verhaftet von der sowjetischen Besatzungsmacht, starb er am 26.09.1946 im Internierungslager Sachsenhausen.“ Dass Heinrich George in den NS-Propagandafilmen Hitlerjunge Quex (1933, Regie: Hans Steinhoff), Jud Süß (1940, Regie: Veit Harlan) und Kolberg (1945, Regie: Veit Harlan) mitwirkte, zugleich aber seine Position als Intendant nutzte, um bedrohte Künstler*innen vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten
zu schützen, wird nicht aufgeführt.





Anlage zur Beschlussvorlage. Die gelb markierten Straßen waren nach Marlene Dietrich, Emil Jannings und Heinrich George zu benennen. 

© Stadtarchiv Potsdam

1 Stadtarchiv Potsdam, Archivsignatur: 12/0221, Bestand: Stadtverordnetenversammlung ab 1990, Teilbestand: 12 - Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, Provenienz: Stadtverwaltung Potsdam, Büro der Stadtverordnetenversammlung, Drucksache 98/087, 118. Stadtarchiv Potsdam, Archivsignatur: 12/0113, Signatur 98/87, Bestand: Stadtverordnetenversammlung ab 1990, Teilbestand: 12 - Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, Provenienz: Stadtverwaltung Potsdam, Büro der Stadtverordnetenversammlung, Titel: Niederschrift der 54. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am
28. Januar 1998.


2 Vermutlich ist Hochzeit auf Bärenhof (1942, Regie: Carl Froelich) gemeint.

Im Hauptausschuss wurden die Benennungen kritisch diskutiert und Bedenken gegenüber Jannings und George geäußert. Mit acht
Ja-Stimmen und fünf Enthaltungen wurde der Antrag an die Stadtverordnetenversammlung weitergegeben. Als der Antrag dort zur Bewilligung eintraf, herrschte Zeitdruck, denn die ersten Bewohner*innen sollten bald die neuen Straßen beziehen. Es war zunächst vorgesehen, über alle drei Benennungen gleichzeitig abzustimmen, doch auf Antrag
der PDS-Fraktion wurde separat über die Straßennamen entschieden. Während die Marlene-Dietrich-Allee und die Emil-Jannings-Straße mit Stimmenmehrheit angenommen wurden, ist zur Heinrich-George-Straße zu lesen: „mit 18 Ja-Stimmen, bei 16 Nein-Stimmen angenommen“.

Zum Seitenanfang

Diese Website verwendet Cookies.
Bitte lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für Details.

OK